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Bonner Erklärung zur Geoinformatik

(25.10.2005) Kürzlich trafen sich in Bonn 12 Hochschullehrer zu einem Expertengespräch über Forschungsfokus und Forschungsprogramm der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geoinformation und Geographischen Informationssystemen. Anlass zu dem Gespräch gab die Analyse, dass im Bereich der raumbezogenen Informationsverarbeitung ein neues Forschungsparadigma zu entwickeln sei, das breite Entwicklungen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft aufnimmt und reflektiert. Die Ergebnisse des Gesprächs sind in einer "Bonner Erklärung" zusammengefasst worden. Die "Bonner Erklärung" im Wortlaut:

Motivation und Analyse

"Geoinformationen und insbesondere digitale Geoinformationen stellen ein Wirtschaftsgut von herausragender Bedeutung dar, weil sie als Produktionsfaktoren am Markt gehandelt werden und rund die Hälfte aller Wirtschaftszweige Geoinformationen direkt oder indirekt für ihre Arbeiten nutzt. Für den Wirtschaftsstandort Deutschland entstehen aus dem Markt für Geoinformationen sowie bei der Entwicklung von Geoinformationssystemen Arbeitsplätze mit hohem Qualitätsniveau, gerade im mittelständischen Bereich." (BT-Drs. 14/4139: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur "Nutzung von Geoinformationen in der Bundesrepublik Deutschland")

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft setzen hohe Erwartungen in Wertschöpfung und Nutzen aus der Verarbeitung raumbezogener Informationen. Festzustellen ist eine zunehmend breite Nutzung dieser Informationsressource. Die Technologie von Geographischen Informationssystemen diffundiert von den Wissensinseln der Spezialisten in die Breite alltäglicher Anwendungen:

  • Einfache internetbasierte Kartenservices produzieren pro Tag mehr Karten, als zuvor in der Menschheitsgeschichte gezeichnet oder gedruckt wurden.
  • Standard-Datenbanken und Enterprise Ressource Platforms integrieren raumbezogene Datentypen und Verarbeitungsmethodiken.
  • Geoinformationstechnologie wird in Alltagsgegenstände wie Autos, Mobiltelefone und Kameras integriert.
  • Suchmaschinen und Internetportale integrieren raumbezogene Informationen, Kartendienste und Navigation.
  • Industrie- wie Entwicklungsländer, internationale Organisationen, alle deutschen Bundesländer und viele Regionen unternehmen beträchtliche Anstrengungen zum Aufbau von Geodateninfrastrukturen. Die Maßnahmen dienen der Wirtschaftsförderung wie der Beförderung gesellschaftlichen Nutzens.

Dies sind nur wenige Oberflächenphänomene, die einen Paradigmenwechsel im Umgang mit raumbezogener Information anzeigen. Eine vertiefende Analyse zeigt enge Verbindungen mit der Entwicklung der Informationsgesellschaft, in der Planung und Analyse auf der Basis formalisierter wie differenzierter Informationsbestände zunehmende Bedeutung gewinnen. Raumbezogene Information ist Planungs- und Orientierungsinformation, aus ihr wird Planungshandeln und Orientierungswissen generiert. Positionen im Raum dienen als Schnittstelle zwischen dem Cyberspace raumbezogener Information und dem realen Handlungsraum der Gesellschaft. Durch die Eigenschaft des Connecting through Location integriert Georeferenzierung vielfältige und komplexe Informationsdimensionen.

Dieser Paradigmenwechsel erfordert eine Neuausrichtung der Geoinformatik als grundlegende Wissenschaft virtueller Welten. In diesen werden Algorithmen, Analysen und Modelle implementiert, um als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage in der realen Welt zu dienen. Die wissenschaftliche Befassung mit der Nutzung von Geoinformationen und Geographischen Informationssystemen findet bisher vor allem in den Traditionen und Methodologien der Informatik, Geodäsie und Geographie statt. Die Folge ist ein starke Zersplitterung der Forschungsansätze, eine beträchtliche Heterogenität der Forschungslandschaft sowie eine im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Ansprüchen schwache Definition des Forschungsobjekts. Festzustellen ist eine starke Orientierung der Forschungsprogramme an Aufgaben und Bewertungssystemen der Herkunftsdisziplinen der beteiligten Wissenschaftler. So entwickelte sich bisher kein zentraler Forschungsfokus, der sich umfassend mit raumbezogenen Informationen, ihren Grundlagen, ihrem Nutzen und ihrer Funktion in der Informationsgesellschaft auseinandersetzt, die gestiegenen Anforderungen an wissenschaftliche Reflexion aufgreift und die Geoinformationsnutzung in der Praxis unterstützt.

Folgerungen

Es bedarf einer wissenschaftlichen Neuorientierung und eines Forschungsfokus, der die Strukturierung, Nutzung und Inwertsetzung von raumbezogenen Informationen für Informationsbedarfe in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in den Mittelpunkt der Analyse stellt. So entsteht eine spezielle Formal- und Methodenwissenschaft mit deutlichem Anwendungsbezug, die im Englischen zutreffend mit Geographical Information Science, im Deutschen mit Geoinformatik bezeichnet wird.

Zu den ersten Aufgaben bei der Entwicklung des Forschungsschwerpunkts gehört die Definition des gemeinsamen Kerns von Forschungsansätzen, die sich bislang so heterogenen Feldern wie der Unterstützung der Klimafolgenforschung bis zur Entwicklung von Bildschirmkarten zur Navigation mittels Mobiltelefonen zuordnen ließen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Auseinandersetzung mit der Modellierung räumlicher Prozesse und Strukturen mit formalen und computergestützten Methoden. Nutzen erbringen sie vor allem in der Strukturierung und Reflexion von Planungs- und Orientierungsprozessen im Raum in unterschiedlichsten Maßstabsstufen und Verwendungszusammenhängen.

Erste organisatorische Ansätze zur Umsetzung einer solchen Neuorientierung in Forschung und Lehre finden wir ...

  • an der Universität Bonn, die ein Technologiezentrum GIS und einen Masterstudiengang GIS begründet hat, um disziplin- und fakultätenübegreifend die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit raumbezogenen Informationen zu befördern,
  • an der Universität Osnabrück, die mit der Gründung des "Instituts für Geoinformatik und Fernerkundung" neue Wege in der Ausbildung (Bachelor/Masterprogramm in Geoinformatik) und Forschung beschreitet und die Fernerkundung als integralen Bestandteil der Disziplin Geoinformatik betrachtet,
  • an der Universität Salzburg, wo die Umbenennung und Neuausrichtung einer Arbeitsgruppe am ehemaligen Institut für Geographie und angewandte Geoinformatik als "Zentrum für Geoinformatik" der Einrichtung eines Magisterstudiums "Angewandte Geoinformatik" und eines MSc-Fernstudiums "Geographic Information Science and Systems" folgte,
  • an der Universität Münster, an der bereits vor über 10 Jahren das "Insitut für Geoinformatik" gegründet wurde und seit 1999 einen Diplomstudiengang Geoinformatik anbietet,
  • in den USA, wo durch das bereits 1988 gegründeteNCGIA - National Center for Geographic Information and Analysis wesentliche theoretische und methodologische Grundlagen der Geoinformatik entwickelt wurden. Heute steht das University Consortium for Geographic Information Science (UCGIS) im Mittelpunkt des Diskurses,
  • in Kanada, wo der Begriff Geomatics/Géomatique geprägt wurde und Institutionen wie das Netzwerk GEOIDE - GEOmatics for Informed DEcisions oder das Canadian Institute of Geomatics die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Strukturierung und Nutzung raumbezogener Informationen vorantreiben.

Die Teilnehmer des Expertengesprächs am 27. September 2005 in Bonn stellen sich der Herausforderung, den Forschungsfokus des Faches Geoinformatik zu definieren und synergetische Forschungsansätze zu entwickeln. Dazu schließen sie sich in der Kommission für Geoinformatik zusammen, mit dem Ziel, eine wissenschaftliche Gesellschaft für Geoinformatik als Trägerorganisation für den Aufbau eines Programms für Forschung und Lehre für die Disziplin Geoinformatik Geoinformatik zu gründen. Die Gründung dieser Gesellschaft soll im kommenden Jahr stattfinden.

Ausformuliert auf der Basis der Ergebnisse der Diskussion von Manfred Ehlers, Klaus Greve und Josef Strobl

Teilnehmer des Expertengesprächs am 27. September 2005 in Bonn und Gründungsmitglieder der Kommission für Geoinformatik:

  • Dr. Thomas Blaschke, Universität Salzburg
  • Prof. Dr. Manfred Ehlers, Universität Osnabrück
  • Prof. Dr. Klaus Greve, Universität Bonn
  • Prof. Dr. Carsten Jürgens, Universität Bochum
  • Prof. Dr. Martin Kappas, Universität Göttingen
  • Prof. Dr. Andreas Koch, LMU München
  • Prof. Dr. Antonio Kröger, Universität Münster
  • Prof. Dr. Otti Margraf, HU Berlin
  • Prof. Dr. Gerd Peyke, Universität Augsburg
  • Prof. Dr. Jürgen Rauh, Universität Würzburg
  • Dr. Jochen Schiewe, Universität Osnabrück
  • Prof. Dr. Josef Strobl, Universität Salzburg

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